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17.01.2013 | Deutschlandradio Kultur
Gefühlte Gerechtigkeit im Rentenstreit
Der deutsch-deutsche Rentenstreit ist geprägt von vielen Vorurteilen und Halbwahrheiten
 

 

Von Klaus Schroeder

Die Durchschnittsrente ostdeutscher Frauen liege etwa um 50 Prozent höher als die der westdeutschen Rentnerinnen, sagt der Historiker und Sozialwissenschaftler Klaus Schroeder. Auch die ostdeutschen Männer schnitten bei den Rentenbezügen - statistisch betrachtet - gut ab.

Mehr als zwei Jahrzehnte nach der Wiedervereinigung wird immer noch heftig gestritten, ob die west- oder die ostdeutsche Seite durch den Wiedervereinigungsprozess benachteiligt wird. Es sollte mithin endlich Gerechtigkeit hergestellt werden. Insbesondere ehemalige Verantwortungsträger der SED-Diktatur beklagen lautstark eine vermeintliche Benachteiligung der Ostdeutschen. Sie führen die immer noch unterschiedliche Entlohnung und vor allem die Berechnung der Rente an. Dabei übersehen diese Wiedervereinigungskritiker, dass es auch innerhalb des Westens der Republik ein Lohngefälle und eine Einkommensungleichheit gibt. 

Auf westdeutscher Seite sehen sich vor allem Frauen benachteiligt, die nur kurze Zeit berufstätig waren, weil sie ihre Kinder zuhause betreut haben. Sie erhalten deutlich weniger Rente als ihre ostdeutschen Altersgenossinnen, die kostenlose Krippen- und Kitaplätze in der DDR vorfanden und rasch wieder arbeiten konnten. Obschon viele westdeutsche Frauen - im Gegensatz zu den ostdeutschen - durch ihre Erziehungsarbeit den Sozialstaat entlastet haben, werden sie bei der Rente deutlich schlechter gestellt. Die Durchschnittsrente ostdeutscher Frauen liegt derzeit fast 50 Prozent höher als die der westdeutschen Frauen.

Und die ostdeutschen Männer? Weil sie in der Regel länger gearbeitet haben als die westdeutschen, liegt auch ihre Rente etwa zehn Prozent über der der westdeutschen. Letztere haben aber deutlich höhere Beiträge im Laufe ihres Erwerbslebens eingezahlt und sehen sich nun ebenfalls benachteiligt. 
Unter dem Strich meinen alle Beteiligten in Ost und West, Männer wie Frauen, sie seien die Verlierer der Einheit. Wie konnte es dazu kommen?

In der DDR gehörten Rentner zu den materiell schlecht gestellten Gruppen. Die durchschnittliche Rente lag in der Endphase des SED-Staates derart niedrig, dass nahezu die Hälfte der Rentner in Armut lebte. In der Bundesrepublik dagegen waren die Renten nach der Dynamisierung Ende der 1950er-Jahre deutlich angestiegen. Rentner und vor allem Pensionäre lagen mit ihren Einkommen nur geringfügig unter dem durchschnittlichen Wohlstandsniveau. Die Wohlstandslücke zwischen Ost und West fiel vor 1990 bei den Renten noch deutlich höher aus als bei den Arbeitnehmern.

Die Bundesregierung unter Helmut Kohl wollte nach der Wiedervereinigung insbesondere älteren Ostdeutschen angesichts begrenzter Lebenszeit einen schnellen Wohlstandssprung verschaffen. Bei der Berechnung ihrer Renten wurde deshalb ein Hochwertungsfaktor eingeführt, der die DDR-Einkommen rückwirkend künstlich auf Westniveau steigerte. Gleichzeitig wurde der Rentenwert für Ostdeutsche befristet niedriger gehalten. Diese beiden Faktoren - Höherbewertung und Rentenwert - bestimmen seither die weitere Rentenentwicklung.

In den letzten Jahren übertraf die Hochwertung ostdeutscher Einkommen den Nachteil eines niedrigeren Rentenwertes, so dass ostdeutsche Arbeitnehmer um einige Prozentpunkte bei der Berechnung der Rente bevorzugt werden. Je später ein Arbeitnehmer nach der Wiedervereinigung in Rente ging, desto mehr profitierte er hiervon. Das gilt erst recht für ostdeutsche Arbeitnehmer, die in den nächsten Jahren ins Rentenalter kommen. 

Wie auch immer die nächste Bundesregierung die notwendige Rentenangleichung bestimmen wird, der Streit wird weitergehen. Gleicht man nur die Rentenwerte in absehbarer Zeit vollständig an, werden Ostdeutsche bevorzugt; fällt auch der Hochwertungsfaktor weg, haben Arbeitnehmer in strukturschwachen ostdeutschen Regionen Nachteile. Gerechtigkeit hat also viele Facetten und der Ruf danach ist vor allem interessengebunden. Eine Zusammenführung unterschiedlicher sozialer Systeme ohne subjektiv empfundene Ungerechtigkeiten ist offenbar nicht möglich.


Klaus Schroeder, Sozialwissenschaftler, geboren 1949 in Lübeck, leitet an der Freien Universität Berlin den Forschungsverbund SED-Staat und die Arbeitsstelle Politik und Technik und ist Professor am Otto-Suhr-Institut der FU Berlin. Letzte Veröffentlichungen: "Der SED-Staat. Partei, Staat und Gesellschaft 1949-1990", Hanser-Verlag, München 1998; "Der Preis der Einheit. Eine Bilanz", Hanser-Verlag, München 2000; "Rechtsextremismus und Jugendgewalt in Deutschland. Ein Ost-West-Vergleich", Schöningh-Verlag, Paderborn 2004. "Die veränderte Republik. Deutschland nach der Wiedervereinigung", Verlag Ernst Vögel, Stamsried 2006. "Soziales Paradies oder Stasi-Staat? Das DDR-Bild von Schülern", zus. mit Monika Deutz-Schroeder, Verlag Ernst Vögel 2008, "Das neue Deutschland. Warum nicht zusammenwächst, was zusammengehört", wjs-Verlag 2010. "Die DDR. Geschichte und Strukturen", Reclam 2011.

 

 

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